Von der Rolle

Früher war die Welt im Handel noch in Ordnung: Jahr um Jahr sind die Umsätze gestiegen, und jeder wusste, was er zu tun hatte. Der Lieferant lieferte, der Händler handelte, der Konsument konsumierte.
Inzwischen ist das Leben komplizierter, sind die Rollen neu verteilt geworden. Der Konsument konsumiert nicht – oder zumindest will er dafür nicht zahlen. Der Handel handelt immer weniger – oder zumindest spannt er den Lieferanten für immer mehr seiner Aufgaben ein. Nur der Lieferant, der liefert noch – und er handelt und zahlt; er ist zum Verkäufer geworden.
Schauen wir uns die neue Rollenverteilung genauer an. Der Konsument hat inzwischen gelernt, dass er alles um die nächste Ecke oder in der nächsten Woche als (vermeintliches) Schnäppchen bekommt. Verlernt hat er dabei die Fähigkeit, die Ware in ihrem Wert richtig einzuschätzen.
Der Handel trägt an diesem Lern- bzw. Verlernprozess nicht unerhebliche Verantwortung, sieht sich aber seinerseits den Zwängen der lausigen Konjunktur unterworfen. Mit Personalreduzierung hat er das Problem nicht gelöst, sondern verschärft.
Und der Lieferant? Der ist längst dazu übergegangen, ureigenste Funktionen des Handels zu übernehmen und zu finanzieren. Die Liste reicht (um von den Werbekostenzuschüssen erst gar nicht anzufangen) von ein ums andere Mal verlängerten Zahlungszielen über einseitig geänderte Konditionen (im Sinne von: „Wir gehen davon aus, dass Sie sich an unserer Jubiläumsaktion beteiligen, und kürzen Ihre Rechnungen pauschal um X,X Prozent“) bis hin zu der Tätigkeit, die den Händler zum Händler macht: Verkaufen.
Dazu braucht es erstens Personal und zweitens beratungskompetentes Personal. Doch während jeder Marktleiter, jeder Baumarktvertriebschef versichert, man lege größten Wert auf gut ausgebildetes Personal und schicke die Mitarbeiter regelmäßig auf Schulungen, beklagen sich die Hersteller über mangelndes Interesse und die Baumarktkunden über mangelnde und obendrein mangelhaft qualifizierte Verkäufer.
Daraus hat die Industrie Konsequenzen gezogen. Sie weiß, was sie in dieser neuen Arbeitsteilung zu tun hat, und schickt ihre eigenen Leute nicht nur zur als selbstverständlich angesehenen Regalpflege und Disponierung in die Märkte, sondern auch zu Roadshows und Beratungstagen, um Kompetenz auf die Fläche zu bringen. In eine neue Dimension ist jetzt Gardena vorgestoßen und zeigt so massiv Präsenz am PoS wie noch nie: In fast einem Viertel der deutschen Baumärkte ist über drei Monate hinweg mindestens an einem Tag pro Woche ein eigener Mann vor Ort, nicht nur mit der Lizenz zu beraten, sondern mit dem klaren Auftrag: Mehr Umsatz machen! Verkaufen! Eigentlich die Rolle des Händlers, sollte man meinen.
Rainer Strnad
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