Dr. Joachim Bengelsdorf

Editorial

Die echten Leistungsträger

Es ist ja schön, dass allabendlich zumindest eine Zeit lang die Deutschen an den Fenstern und auf den Balkonen standen und all den in Coronazeiten besonders wichtigen Berufen und Tätigkeiten ihren Respekt und ihre Unterstützung durch Beifall bekundeten. Klar ist, viele derjenigen, die sich in Heil-, Pflege- und Serviceberufen engagieren, haben diesen Respekt erstens verdient und zweitens hilft es sicherlich auch psychologisch, die momentan beruflich besonders belastenden Zeiten etwas besser durchzustehen.
Es muss jedoch auch festgestellt werden: Beifall ist billig, er kostet wenig, nur etwas Zeit und ein paar Kalorien. Plötzlich entdecken wir unser Herz für eine ganze Anzahl von Berufen, die wir lange Zeit vielleicht intellektuell definiert und mir nichts dir nichts einfach dem "Niedriglohnsektor" zugeordnet haben, emo­tional waren wir den weiblichen und männlichen Altenpflegern, Müllmännern und Verkäuferinnen  jedoch meilenweit entfernt.
In der letzten großen Krise - Sie erinnern sich noch dunkel? In der Banken- und Wirtschaftskrise von 2008ff - erklärten wir all die Banker und IT- und Versicherungsspezialisten, all die Manager im mittleren und höheren Management als "Leistungsträger", als unverzichtbare Bestandteile unserer neoliberalen Wirtschaftsordnung. Banken und Versicherungen galten als "systemrelevant" und mussten mit Milliardenbeträgen gerettet werden. Mit dem Geld der europäischen Steuerzahler und dies, obwohl die zu Rettenden doch die Krise selbst verschuldet hatten.
Wie sich die Zeiten ändern! Jetzt, da viele Deutsche Angst davor haben, zu wenig Toilettenpapier zuhause zu haben, richtet sich unser Blick tatsächlich auch einmal nach unten und - hoppla, da sind ja doch tatsächlich welche, ohne die unsere pflegebedürftigen Eltern - ja was wohl? - ... würden, ohne die die dauerhafte Überwachung von Beatmungsgeräten nicht gewährleistet wäre, ohne die der ÖPNV zusammenbrechen und kein Gebäude gereinigt werden würde, ohne die ich aber auch kein Toilettenpapier, keineDosenravioli, keine Dübel und keine Blumenerde nach Hause tragen könnte. Wir lernen: "Systemrelevanz" hat keinen Blickwinkel, die "Leistungsträgerschaft" ist auch nicht für die "Entscheidungsträger" reserviert.
Letztendlich ist es ein Skandal, dass laut DIW der Frauenanteil an diesen systemrelevanten und miserabel bezahlten Berufen rund 70 Prozent beträgt. Hinzu kommt, dass zwar die Verdienstlücke zwischen Frauen und Männern in diesen Bereichen (Gender Pay Gap) geringer ist als im Durchschnitt aller Berufe ("nur" 20 Prozent), das liegt aber daran, dass das Lohnniveau in diesen Berufen grundsätzlich gering ist. Da muss sich was tun, auch in unserer Branche. Jede Verkäuferin, jeder Regalauffüller, jeder Fahrer ist genauso wichtig wie ein Regionalvertriebsleiter oder ein CEO. Es müssen endlich auch hier den schönen Sonntagsreden Taten folgen.Herzlichst IhrDr. Joachim Bengelsdorf
Kontakt
Tel.: +49/7243/575-208 • j.bengelsdorf@daehne.de
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