Der Hahn und der Sonnenaufgang

Auf dem Hühnerhof war der Hahn erkrankt. Niemand konnte mehr damit rechnen, er werde auch am nächsten Morgen noch krähen. Abschied war angesagt. Die Hennen machten sich Sorgen – sie waren felsenfest überzeugt, die Sonne gehe nur auf, weil der Meister sie rufe. Der nächste Morgen aber belehrte sie eines Besseren: Die Sonne ging auf wie jeden Tag; nichts hatte ihren Gang beeinflusst.“
Diese kleine Geschichte aus Persien ist eine Abwandlung der Erkenntnis, dass die Erde trotz tiefgreifender Ereignisse für die Menschen (wie die augenblicklichen, zahlreichen personellen Veränderungen an der Spitze von deutschen DIY-Handelsunternehmen oder im Verband auf der einen oder die Firmenübernahmen auf der anderen Seite) sich unbeirrt einfach weiterdreht, als sei nichts geschehen. Ist dieser Gedanke für Sie eher beunruhigend oder doch eher tröstlich?
Wahrscheinlich ist alles eine Frage des Standpunktes. Klar: Wirtschaftsbosse sind niemals Hähne und angestellte Mitarbeiter auf keinen Fall Hühner. Gewisse Analogien gibt es (Entschuldigung!) aber schon. Den überlebenden Hähnen dürfte zumindest die Erkenntnis „ihrer“ Hühner, dass die Sonne auf jeden Fall wieder aufgeht, nicht so sehr gefallen haben.
Die Situation stellt sich für die Hühner etwas anders dar. Das Wegfallen der Kausalkette „Krähen – Sonnenaufgang“ kann befreiend wirken. Unbegründete Angst wird genommen und – zugegebenermaßen – alt gewohnte Traditionen und Hierarchien werden aufgebrochen. In der Geschichte stecken also echte Entwicklungschancen für die Hühner, ja den ganzen Stall!
Die kleine persische Geschichte lehrt aber noch etwas anderes: Hühner sind lernfähig. Sie wurden, so der Text, „eines Besseren belehrt“. Sie erfuhren also eine Erkenntniserweiterung. Das ist doch für so ein Huhn schon ein ganz schöner Gewinn. Das hatten die sich wohl selber gar nicht zugetraut.
Für mich überwiegt der positive Aspekt unserer kleinen Erzählung. Dass in jedem Ende auch ein neuer Anfang liegt: Was kann es bei aller Wehmut, die einen natürlich befällt, wenn beispielsweise unsere DIY-Branche augenblicklich einen Generationswechsel von diesem Ausmaß erfährt, denn tröstlicheres geben, als dass alles ganz normal weiter gehen wird wie bisher. Vielleicht sogar etwas unaufgeregter.
Und die Hähne? Ihr Verdienst ist unbestritten. Jetzt helfen ihnen aber in erster Linie Distanz, Souveränität und Humor, so wie es ein zurückgetretener französischer Minister des Post- und Telegrafenwesens eine Stunde nach der Abdankung in einem Brief an seinen ehemaligen Staatssekretär bewiesen hat: „Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern...“
Download: Der Hahn und der Sonnenaufgang (PDF-Datei)
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